Wer ist der Chef im Satz? - In kaum einem Industrieland sind die Bildungschancen für Migrantenkinder so schlecht wie in Deutschland. Lesepatinnen und Integrationslotsen wollen das ändern. - Langsam fährt Ahmed mit dem Finger über die Buchseite. Wort für Wort entschlüsselt der Drittklässler die Zeichen. Als er „e-mail“ richtig ausspricht, bekommt er ein dickes Lob von Susanne Dammasch. „Das hab ich mir aus der letzten Woche gemerkt“, sagt Ahmed stolz und gibt das Buch weiter an Metehan, der neben ihm sitzt und schon ungeduldig auf seinen Einsatz wartet. Bei manchen Wörtern verschlucken die Kinder die Endungen. Viele schwierige Wörter buchstabieren sie mehr, als dass sie sie lesen. Geduldig fordert Susanne Dammasch die Achtjährigen dann auf, es erneut zu probieren. „Meine Eltern nerven“, liest Metehan. „Was heißt nerven?“ fragt die junge Frau mit dem dunklen Zopf in die Runde. Weil keines der sechs Kinder es weiß, sucht Dammasch selbst nach Umschreibungen und Erklärungen - bis alle verstanden haben, wovon die Rede ist. Nachdem jedes Kind einen Abschnitt entziffert hat, stellt die Lesepatin die entscheidende Frage: Was steht denn eigentlich drin in der Geschichte? Gemeinsam versuchen nun alle, das herauszufinden und sich gegenseitig zu erklären. Jeden Dienstag Vormittag kommt Susanne Dammasch in die dritte Klasse der Gotzkowsky-Grundschule in Berlin und wird dort stürmisch begrüßt. Vor eineinhalb Jahren hat sie zusammen mit zwei anderen Müttern die Initiative ergriffen, als sie bemerkte, welche Schwierigkeiten die Klassenkameraden ihrer Tochter mit der Sprache hatten. Die Klassenlehrerin war sofort offen für die Unterstützung. Gemeinsam überlegen die vier Frauen, wie jedes Kind am besten von der Lesepaten-Stunde profitiert. Schließlich sind ihre Voraussetzungen sehr unterschiedlich. 60 Prozent der Kinder an der Gotzkowsky-Grundschule stammen aus nichtdeutschen Familien; in der dritten Klasse sind Kinder mit zehn verschiedenen Muttersprachen vertreten. Zudem kommen viele Schüler aus sogenannten „bildungsfernen Elternhäusern“. Aber auch ein paar deutsche Akademikerkinder besuchen die Klasse. Was an der Gotzkowsky-Grundschule selbstorganisiert begann, macht in Berlin Schule. Anfang 2005 hat sich ein Bürgernetzwerk Bildung gegründet, das systematisch Lesepaten rekrutiert. Inzwischen hat die Initiative 750 Ehrenamtliche in ihrer Kartei – überwiegend Senioren und zu 90 Prozent Frauen. Ein bis zweimal wöchentlich sind sie im Einsatz an mittlerweile 43 Grundschulen, die sich fast alle von sich aus gemeldet haben. Ganz bewusst versucht das Bürgernetzwerk, insbesondere an die Kinder heranzukommen, die ansonsten keine Unterstützung erhalten. „Desto höher der Migrantenanteil, desto besser die Versorgung durch uns“ beschreibt die ehemalige Schulsenatorin und heutige Netzwerk-Leiterin Sybille Volkholz die Prioritätensetzung. Damit sie wissen, was sie tun, können die Lesepaten kostenlos Seminare und Workshops an der freien Universität besuchen, bei denen sie etwas über den Zusammenhang von Lernen und Lesen erfahren. (Und ab und zu spendiert der Verein der Berliner Kaufleute, unter dessem Dach das Netzwerk aufgebaut wurde, den Engagierten auch mal zur Belohnung eine Reichstagsführung oder Konzertkarte. ) Beim Bürgernetzwerk steht die Unterstützung der Kinder beim Selbstlesen im Zentrum. Darüber hinaus gibt es in Berlin inzwischen auch mehrere Initiativen, die Vorlesenachmittage in öffentlichen Bücherhallen oder mit Prominenten organisieren. Der Hintergrund für all diese Aktivitäten ist dramatisch. In Berlin verlässt inzwischen ein Viertel der Migrantenkinder die Schule ohne Abschluss – und findet dann meist keinen Job. 47,2 Prozent der nichtdeutschen Bevölkerung Berlins sind inzwischen arbeitslos, belegt der Berliner Sozialstrukturatlas. Annette Jensen - Die Autorin ist Journalistin in Berlin. Nach den Recherchen zu diesem Artikel ist sie Lesepatin geworden und hat viel Spaß daran.- Veröffentlicht 1+2/2006 „Mitbestimmung – Das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung“ |
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Am 14. September 2005 starteten wir an unserer Schule mit dem Projekt
„Lesepaten“. Inzwischen sind an der Schule 18 ehrenamtliche Lesepaten in 11
Klassen tätig. |
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Weitere Informationen zu Lesepaten finden Sie auch beim VBKI |
Stand: 09.02.2007 |